In Haiti läuft langsam die Katastrophenhilfe an. Gleichzeitig fragen sich viele Menschen: Wieso trifft es immer wieder das bitterarme Land - und wie könnte es weitergehen?
Von Christoph Gurk, Buenos Aires
Eine Woche ist vergangen, seit am vergangenen Samstagmorgen die Erde in Haiti zu beben begann. Während langsam das Ausmaß der Katastrophe deutlich wird, läuft gleichzeitig die internationale Hilfe an - mal wieder, muss man sagen, steht die bitterarme Nation doch wie kaum eine andere in der öffentlichen Wahrnehmung für Krisen und Katastrophen. Fegte da nicht gleich nach dem Erdbeben auch noch ein Tropensturm über die Insel? Genau.
"Natürlich ist Haiti schwer gebeutelt", sagt auch Katja Maurer. Sie leitet die Öffentlichkeitsarbeit von Medico International, nach dem schweren Erdbeben von 2010 war sie das erste Mal in Haiti und bis heute, sagt sie, sei sie zutiefst schockiert darüber, was sie damals sah: Die Not der Menschen, aber auch die Arroganz des Westens. "Viele glauben, dass all die Katastrophen und Krisen in Haiti so etwas wie Schicksal sind und das Land angeblich nicht 'entwickelbar' ist. Dabei wird aber ausgeblendet, dass Europa und die USA maßgeblich mit beteiligt sind an der Situation des Landes".
Um all das zu verstehen, muss man in der Geschichte ein paar Jahrhunderte zurückgehen. Haiti liegt auf der Insel Hispaniola, im Dezember 1492 ging Christoph Kolumbus hier nach seiner Atlantiküberfahrt an Land. Ihm folgten erst spanische Glücksritter, dann französische Seeräuber und Siedler. Bald entstand eine französische Kolonie, Saint-Domingue, die Perle der Antillen.
Über Jahrzehnte floss der Reichtum des Landes ab
Urwälder wurden abgeholzt und Zucker, Kaffee und Baumwolle gepflanzt, das brachte gute Gewinne, führte aber auch zu Bodenerosion. Großen Teilen Haitis fehle heute der ursprüngliche Wald, sagt Maurer: "Das führt dazu, dass die Insel Stürmen und Starkregen kaum etwas entgegensetzen kann".
Auf den Plantagen schufteten aus Afrika verschleppte Sklaven. Immer wieder kam es zu Aufständen, 1804 erklärte Haiti seine Unabhängigkeit, nach langem Zögern entließ Frankreich die ehemalige Kolonie, aber nur gegen Zahlung einer immensen Wiedergutmachung. "Faktisch war damit schon das Unheil von Haiti besiegelt", sagt Maurer.
Über Jahrzehnte floss der Reichtum des Landes ab, bis nach dem Zweiten Weltkrieg musste Haiti seine Schulden abbezahlen. Es gab keine Mittel für den Aufbau von Infrastruktur oder Wirtschaft, eine kleine Elite im Land steckte sich das wenige, was übrig blieb, in die eigene Tasche. Diktatoren gaben sich die Macht in die Hand, teils geduldet, oft aber auch mit der direkten Unterstützung der USA und der internationalen Gemeinschaft.
Die Hilfe hat mehr geschadet als genutzt
Zu dieser ohnehin schon schwierigen Situation kamen immer wieder Naturkatastrophen. Haiti liegt in einem Gebiet, in dem sich nicht nur Stürme bilden, sondern auch Erdplatten aufeinandertreffen. Immer wieder gibt es Erdbeben, das schwerste bislang 2010, mit 200 000 Toten. "Es gab damals das große Versprechen, Haiti wieder aufzubauen, und zwar besser als zuvor", erinnert sich Katja Maurer. 40 000 Nichtregierungsorganisationen seien damals ins Land gekommen. "Einzelne haben bestimmt gute Arbeit gemacht, aber im Ganzen hat die Hilfe mehr geschadet, als genutzt".
Maurer war damals selbst auch im Land, jede Organisation habe damals gemacht, was sie wolle, erinnert sie sich. "Es gab keine Koordination, keine Planung, keine Mitsprache der Haitianer". Millionen an Spenden- und Entwicklungshilfegeldern flossen über die nächsten Jahre ins Land, vor allem aber in die Taschen der Mitarbeiter der Organisationen, sagt Maurer. Die Korruption wuchs, der Ärger der Menschen auch, die Armut aber nahm kaum ab. "Die Schuld wurde dann immer bei den Haitianern gesucht", sagt Maurer. "Dabei müsste man doch erst mal fragen: Was haben wir falsch gemacht?"
Nun, nach dem erneuten schweren Erdbeben, sei es höchste Zeit für ein Umdenken, sagt Maurer. "Wenn Afghanistan das Symbol für das Scheitern der internationalen Sicherheitspolitik ist, dann ist Haiti das Paradebeispiel dafür, dass internationale Entwicklungshilfe neu gedacht werden muss". Was es bräuchte, sagt sie, wären langfristige Strukturen, Koordination und vor allem Beteiligung der Menschen vor Ort. Nur so könne das Land die Hilfe bekommen, die es dringend brauche, jetzt und auch in Zukunft: Nur wenige Länder weltweit werden vermutlich so sehr von den Folgen des Klimawandels betroffen sein, wie Haiti.
Protest gegen Armut und Korruption
Haitis junge Herausforderer
Montag, 16.12.2019
Es erinnert an die Proteste in Chile oder Kolumbien - und ist doch viel dramatischer: Im unter Armut und Korruption leidenden Inselstaat Haiti setzen junge Aktivisten die Regierung massiv unter Druck.
Aus Port-au-Prince berichtet Klaus Ehringfeld
Aktivistin Pascale Solages: Träumt bereits von einem moderneren Haiti nach der Krise
Sie sind jung, und Politik hat sie eigentlich nie interessiert. Aber jetzt eint sie die Wut auf eine korrupte Regierung und die herrschenden Eliten in ihrem von Armut und Naturkatastrophen ausgelaugten Land. Sie sind sicher, dass sich in Haiti etwas Fundamentales ändern muss.
In der karibischen Krisenrepublik machen junge Leute, die meisten um die 30, vehement auf sich aufmerksam. Sie sind eine treibende Kraft hinter den andauernden Protesten gegen die Regierung von Staatschef Jovenel Moïse.
Wenn Pascale Solages davon erzählt, was sie inzwischen Tag und Nacht beschäftigt, merkt man ihr die Sehnsucht nach Aufbruch und das Verlangen nach Veränderung in jedem Wort an. Sie redet ohne Punkt und Komma. Sie spricht von neuen politischen Figuren, von einem neuen System, von partizipativer Demokratie - und sie geißelt die Ausgrenzung der Massen und die Verschwörung von Politik und Wirtschaft zum Nachteil der Bevölkerung. Präsident Moïse, auch das sagt Solages, müsse unbedingt gestürzt werden. Der ehemalige Geschäftsmann, seit 2017 im Amt, gilt als Personifizierung all dieser Missstände.
Ein wütendes Volk geht auf die Straße
Solages ist 32, trägt lange Rastalocken und einen Nasenring. Die feministische Aktivistin ist ein "Petrocaribe Challenger", Mitglied der gleichnamigen Gruppe von rund zwanzig zumeist jungen Leuten. Die "Challenge" besteht aus Filmemachern, Marketingchefs und Intellektuellen, "junge, gut ausgebildete Haitianer", sagt Solages im Interview an einem Dezembermittag in Port-au-Prince, viele von ihnen hätten im Ausland studiert. Es sei eine neue Generation von Haitianern, die das Land aus dem Joch von Armut und Kleptokratie befreien will.
Bereits im Juli 2018 gingen die Haitianer erstmals gegen Präsident Moïse auf die Straße, als er über Nacht, auf Druck des Internationalen Währungsfonds, die Benzinpreise um bis zu 50 Prozent erhöhte. Damals konnte er die Wut der Menschen durch die Rücknahme der Erhöhung und eine Kabinettsumbildung noch besänftigen.
Doch seit Mitte September herrscht faktisch Ausnahmezustand in Haiti. Nahezu unbeachtet vom Rest der Welt hat sich das ärmste Land der westlichen Hemisphäre innerhalb des vergangenen Jahres zu einem weiteren lateinamerikanischen Krisenherd entwickelt. Die Proteste sind vergleichbar mit denen in Chile oder Kolumbien: Ein wütendes Volk geht gegen seine Regierung auf die Straße.
Aber in Haiti ist alles ein wenig dramatischer. Im dem Inselstaat leben 70 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. In der Folge sind auch die Auseinandersetzungen härter. Seit Beginn der jüngsten Aufstände, in die sich auch von Politikern bezahlte Gangs und kriminelle Banden mischen, kamen laut Uno-Angaben 42 Menschen ums Leben. Die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH geht sogar von mehr als hundert Toten aus.
Der Funken, der das Pulverfass zum Explodieren brachte, war eine Untersuchung des haitianischen Rechnungshofes, die den Präsidenten in einen der größten Veruntreuungsskandale der Geschichte des Landes verwickelt. Rund vier Milliarden Dollar sollen zwischen 2008 und 2016 aus dem venezolanischen Solidaritätsfonds Petrocaribe abgezweigt worden sein. Einer der Hauptverantwortlichen offenbar: der damalige Landwirtschaftsunternehmer Moïse mit seiner Firma Agritrans.
Anti-Moïse-Graffito in Port-au-Prince: "Nieder mit dem dreckigen Dieb Jovenel"
Die "Petrocaribe Challenger" fordern Rechenschaft über den Verbleib der Milliarden aus dem Fonds. Angefangen hat der Aufstand der Jungen und Gebildeten Haitis im August 2018 mit einem Tweet des 35-jährigen Drehbuchautors Gilbert Mirambeau, in dem er ein Foto von sich mit verbundenen Augen postete und in der Landessprache Créole auf eine Pappe schrieb: "Kot Kòb Petwo Karibe a ???" - wo ist das Petrocaribe-Geld? Der Tweet wurde zehntausendfach von Haitianern in dem Inselstaat und in der Diaspora geteilt. So entstand eine Idee - und daraus eine Protestbewegung.
Sit-ins und Sleep-overs
Die "Herausforderer" erfanden für Haiti neue, friedliche Protestformen. Mit Sit-ins und Sleep-overs vor Gerichten, dem Rechnungshof und dem Präsidentensitz machten die Aktivisten auf die Veruntreuung und Verschwendung der Gelder aufmerksam, die eigentlich für den Aufbau des Landes gedacht waren. Sie stellten schnell fest, dass die entnervte Bevölkerung mitzieht. Ihren Aufrufen zu Protestmärschen sind inzwischen Zehntausende Haitianer gefolgt. "Das ist es, was uns Hoffnung gibt", freut sich Solages.
Das Thema Petrocaribe ist in Haiti inzwischen allgegenwärtig. In Port-au-Prince beschimpfen Graffitis den Präsidenten als "dreckigen Dieb". In beinahe jedem Gespräch geht es um den Vertrag, den die venezolanische Regierung 2006 mit dem klammen Inselstaat schloss. Er sah vor, dass Haiti venezolanisches Öl erhalte, aber nur 60 Prozent davon sofort zahlen müsse. Der Rest sollte über 25 Jahre und zu einem sehr günstigen Zinssatz beglichen werden. Das auf diese Weise frei gewordene Geld sollte in die Infrastrukturentwicklung des Landes und in die Armutsbekämpfung investiert werden. Missstände, die seit dem verheerenden Erdbeben von 2010 noch extremer geworden sind.
Auf Druck der "Challenge" veröffentlichte der Rechnungshof "Cour Supérieure des Comptes" im Frühjahr zwei Berichte, aus denen hervorging, dass viele Millionen für Brücken, Straßen und Marktgebäude genehmigt worden waren, die Gewerke aber nie fertiggestellt wurden. Immer mittendrin im Gemauschel: Präsident Moïse, damals noch Unternehmer und Günstling seines Vorgängers im Präsidentenamt, Michel Martelly.
Seitdem vergeht kaum eine Woche, in der die Haitianer nicht den Rücktritt ihres 51-jährigen Staatschefs forderten. "Mittlerweile wollen die Menschen auch grundlegende Rechte wie Arbeit, eine menschenwürdige Behausung und genügend zu Essen", sagt Pascale Solages. In der schlimmsten Phase der Proteste wurden täglich Barrikaden auf den Straßen der Hauptstadt errichtet. Kriminelle Banden nutzten das Chaos und forderten Wegzoll, entführten oder erschossen Passanten. Es drohte völlige Gesetzlosigkeit. Bis heute traut sich Moïse nicht in die Öffentlichkeit: Wenn sich der Präsident im Land bewegt, muss er um sein Leben fürchten.
Port-au-Prince, in dessen Großraum knapp fünf der elf Millionen Einwohner Haitis leben, war monatelang faktisch von der Außenwelt abgeschnitten. "Pays Lock" nannten die Haitianer diesen erzwungenen Blockadezustand, "abgeriegeltes Land". Die wirtschaftlichen Aktivitäten kamen zum Erliegen. Schulen und Universitäten schlossen. Der Nahverkehr brach zusammen, Geschäfte, Restaurants und Banken machten dicht.
Erst allmählich schließt sich Haiti jetzt wieder auf. Nicht, weil die Wut nachgelassen hätte. "Aber die Menschen müssen ja irgendwann wieder Geld verdienen und die Kinder zur Schule", sagt Solages. Mit ihren Mitstreitern entwirft die junge Aktivistin bereits Konzepte für die Zukunft ihrer Heimat und erstellt Anforderungsprofile für künftige Politiker. Unbestechlich sollen sie sein und die soziale Ungleichheit bekämpfen wollen: "Und sie müssen wirklich dem ganzen Volk dienen, nicht nur einigen wenig
10 Jahre nach dem Erdbeben - Warum Haiti zu den ärmsten Ländern der Welt gehört
12.01.2020
Diktatur, Misswirtschaft und das schwere Erdbeben: Haiti gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Ein Überblick.
Zehn Jahre ist es her, dass bei dem Erdbeben in Haiti Hunderttausende starben und mehr als eine Million Menschen obdachlos wurden. Das Land kämpft heute noch ums Überleben.
Das karibische Haiti mit seinen rund 10,8 Millionen Einwohnern und seinen zuletzt vermehrt auftretenden Naturkatastrophen ist das ärmste Land Amerikas.
Im 18. Jahrhundert war noch das Gegenteil der Fall: Der Gesamtwert der
Ein- und Ausfuhren der damaligen französischen Kolonie umfasste damals ein Viertel des gesamten Handelsvolumens des Mutterlandes Frankreich. Um die
expandierenden Zuckerrohr- und Baumwollfelder zu bewirtschaften, wurden pro Jahr bis zu 30.000 Sklaven aus Afrika nach Haiti gebracht.
Wirtschaftliche Motive waren ein Grund für die Widerstände gegen eine Autonomie des Karibikstaates, der sich 1804 für unabhängig erklärte.
Haiti liegt in der Karibik und seit dem 19 Jahrhundert ein unabhängiger
Staat.
Als erster europäischer Staat erkannte der Kirchenstaat 1860 die "Republik der Schwarzen" an. Politische Instabilität, fortschreitende Umweltzerstörung und Überbevölkerung
führten zu einer Verelendung.
Diktatoren, korrupte Regierungen und bewaffnete Banden beherrschen das Land seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Konstellationen.
Besonders brutal war die fast 30 Jahre währende Diktatur von Francois Duvalier (1907-1971), genannt "Papa Doc", und seinem Sohn Jean-Claude "Baby Doc"
Duvalier (1957-1986).
Nach dem Sturz des linkspopulistischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, eines früheren katholischen Priesters, 2004 versuchten UN-Missionen bis zum vergangenen Herbst, die staatliche Ordnung in Haiti aufrechtzuerhalten.
Verheerende Verwüstungen in dem ohnehin krisengeschüttelten Land richtete im Januar 2010 ein schweres Erdbeben an. Dabei kamen laut offiziellen Angaben rund 300.000 Menschen ums Leben. Haitis katholische Kirche, die zu den wenigen funktionsfähigen Organisationen im Land gehört, schätzte die Zahl der Toten auf bis zu eine halbe Million