Vom Mundraub bis zum
Sturm aufs Rathaus
Buch des Brachelener Autors Dr. Heribert Schüngeler über das Krisenjahr 1923. Von Ausweisungsbefehlen und
Separatisten.
HÜCKELHOVEN-BRACHELEN „Hallo
Dettmar, schau mal, hier hat jemand ein Buch geschrieben über das Krisenjahr 2023. Vielleicht hast Du ja Lust, Dich mal mit dem Autor zu treffen und etwas über ihn und das Buch zu schreiben“, bot
die Kollegin an. Der mitgeschickte Begleittext des Heimat- und Naturvereins Brachelen zum neuen Buch von Dr. Heribert Schüngeler sorgte glücklicherweise flugs für Entspannung. Wer hätte schon
Lust, was über das Krisenjahr 2023 zu schreiben, wenn das Krisenjahr 2022 noch in den Kleidern steckt? Die Kollegin hatte sich um 100 Jahre vertan.
Auf 123 Seiten
Wer Heribert Schüngeler ein wenig kennt, hätte auch nicht vermutet, dass er sich als Wahrsager versuchen würde. Ihm
liegen mehr die historischen Fakten und Geschichten. Diese hat er in den Archiven der Region zusammengetragen und daraus ein 123 Seiten starkes Buch im DIN-A-4-Format verfasst. Es handelt von
einem Thema, das sich selbst einem erfahrenem Heimatkundler wie ihm erst bei der Recherche in der ganzen Tragweite des Elends, das Menschen in Krisenzeiten erfahren, erschloss.
Im Jahr 1923 erreichten die Folgen des Ersten Weltkrieges in der Region Aachen, Mönchengladbach, Düren und Heinsberg,
auf die sich Schüngeler in seinem Buch konzentriert, eine Heftigkeit, die die Mitarbeiter der Zeche Sophia-Jacoba auf die Kartoffelfelder trieb, um dort nach etwas Essbarem zu suchen. Der
Mundraub verschonte damals auch nicht die Saatkartoffeln der Bauern. Die galoppierende Inflation im besetzten Rheinland, in dem die Bevölkerung, unterstützt durch die deutsche Reichsregierung,
passiven Widerstand leistete, führte dazu, dass die Notenpressen heiß liefen. 500 Millionen-Mark-Scheine wurden damals im ehemaligen Kreis Heinsberg gedruckt.
„Bevor ich das Buch
geschrieben habe, wusste ich nicht, wie fürchterlich diese Zeit für die Menschen im Rheinland gewesen ist.“
Heribert Schüngeler, Autor
Heribert Schüngeler hat dem Währungsverfall ein eigenes Kapitel seines neuen Buches gewidmet. Die Kartoffel als
Grundnahrungsmittel spielt darin eine beispielhafte Rolle. Im September 1923 kosteten fünf Pfund Kartoffeln 1 Million Mark. Auf den Wochenmärkten kam es zu Tumulten. Fleisch mussten die Städte
der Region überregional teuer einkaufen. Die hiesigen Metzgereien verkauften diese subventionierten Fleischrationen im September 1923 das Pfund für 55 Millionen Mark.
Schüngeler streut auch immer wieder Anekdoten in seine gut recherchierten Kapitel ein. Beispielsweise die Geschichte
des Kneipengastes, der sich den Scherz erlaubte, ein Glas Bier mit zwei Säcken voller Scheine zu bezahlen, insgesamt 54 Millionen Mark, gebündelte 1000er und kleinere Scheine. Leider ist nicht
überliefert, ob es an diesem Abend bei einem Glas Bier blieb, weil der Gast an den zwei Säcken genug zu schleppen hatte, oder der Wirt den Scherz nicht komisch fand.
Heribert Schüngeler: „Bevor ich das Buch geschrieben habe, wusste ich nicht, wie fürchterlich diese Zeit für die
Menschen im Rheinland gewesen ist.“ Die belgischen Besatzungssoldaten hätten damals sicherlich keinen Grund gehabt, besonders mitfühlend mit den Deutschen umzugehen, da diese im Ersten Weltkrieg
das neutrale Belgien ja gerade erst überfallen hätten. Der passive Widerstand in der Bevölkerung – preußische Beamte wie Eisenbahner und Zöllner boykottierten beispielsweise den Dienst unter den
Besatzern – hatte zur Folge, dass der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré Ausweisungen preußischer Beamter samt Familie aus den besetzten Gebieten anordnete.
Schüngeler berichtet in seinem Buch, dass der erste Ausweisungsbefehl in der Region im Januar 1923 den Heinsberger
Zollrat Buchholz traf. Die Geschichte des Zollrats und ihre Folgen gehört mit zu den Details, die Schüngelers Buch so interessant machen, weil sie von Menschen handelt, die in unserer Region
lebten. Bei der Abführung des Zollrats in Handschellen durch die belgischen Soldaten, die damals unter anderem in der Jutefabrik Blancke in Heinsberg untergebracht waren, hatten sich zahlreiche
Bürger vor dessen Wohnung eingefunden. Sie sangen „vaterländische Lieder“ und zogen dann geschlossen durch die Stadt, um ihren Unmut lautstark kund zu tun. Die Menge löste sich schließlich auf,
als die Belgier mit Maschinengewehren drohten. Im Nachhinein wurden vor dem Kriegsgericht in Aachen zwölf junge Heinsberger angeklagt, zwei von ihnen zu einem Monat Gefängnis verurteilt.
Als die Heinsberger sich weiterhin aufmüpfig gegenüber den Besatzern zeigten, wurde die Polizeistunde auf abends 10 Uhr
festgesetzt und öffentliche „Lustbarkeiten“ verboten.
Im Gegensatz zum passiven Widerstand gegenüber den Besatzern gab es gleichzeitig aber auch durchaus militant gestimmte
Separatisten, die auf die Abtrennung des Rheinlandes vom Reich und die Beendigung der preußischen „Fremdherrschaft“ abzielten. Schüngeler hat den Separatisten im Rheinland ein weiteres
lesenswertes Kapitel vorbehalten. Er zitiert darin aus der Brachelener Chronik zum Putsch der Separatisten in seinem Heimat- und Wohnort Brachelen. Aufgrund der ausufernden Erwerbslosigkeit
herrschte 1923 Unzufriedenheit unter den Einheimischen. Der Brachelener Schlosserei-Besitzer Jean Burggraef hatte seinen Arbeitern beispielsweise vorgeschlagen, anstatt arbeitslos zu werden,
einen Landschaftspark an Haus Berg anzulegen.
Von der wirtschaftlichen Not der Bevölkerung hatte Schüngeler erstmalig durch Erzählungen in der eigenen Familie
gehört. Das Geld des Großvaters, ein Reichsbahner, war durch die Inflation auf einmal weg gewesen. Die Aussichtslosigkeit, die sich übers Jahr 1923 verschärfte, war sicherlich ein Nährboden für
die separatistischen Bewegungen. Der „zugezogene“ Maschinenschlosser Bonsels, so berichtet es die Brachelener Chronik, fungierte damals als Bezirksleiter der Separatisten. Er führte den Befehl
aus, in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1923 mit seinen Anhängern das Rathaus in Brachelen zu besetzen. Die Separatisten enthoben Bürgermeister Will seines Amtes und riefen die „Rheinische
Republik“ aus. Rathauserstürmungen gab es zu dieser Zeit auch andernorts, etwa in Aachen. In Brachelen konnte Bürgermeister Will die Separatisten aber schnell wieder vertreiben, als deutlich
geworden war, dass sie von außen nicht unterstützt wurden. Maschinenschlosser Bonsels verließ schließlich Brachelen und wurde Zollassistent in Kaldenkirchen.
Mit Freude durchblättern
Man kann „Das Krisenjahr 1923“ Seite für Seite lesen, es lässt sich aber auch wunderbar darin blättern. Dabei wird man sich schnell festlesen in einem der zwölf Kapitel dieses
Buches, das ein Jahr schildert, das uns so hoffentlich nicht noch einmal begegnet.
03.12.2022 Filmvorführung des Heimatvereins Brachelen
HÜCKELHOVEN-BRACHELEN Der
Heimatverein in Brachelen bietet am heutigen Samstag, 3. Dezember, eine Filmvorführung des zuletzt aufgeführten Krippenspiels im Pfarrheim auf der Kirchgrabenstraße an. Start ist um 15 Uhr
mit einem kleinen Adventsmarkt an gleicher Stelle – die Vorführung beginnt um 17 Uhr. Der Lehmbackofen wird mit hausgemachter Pizza bestückt und auch Apfelpunsch kommt neben anderen Getränken
zum Ausschank. Ein Novum ist der von Peter Wilms und Hubert Henseler vorbereitete Ahnenforschungsstand, der interessierten Besuchern helfen will, einen Blick auf ihren Stammbaum zu
werfen.
HÜCKELHOVEN-BRACHELEN Advents- und Weihnachtsdekoration, Geschenk- und Haushaltsartikel: In diesem Jahr findet der Verkauf im
Pfarrgarten und in der Kirche statt. Nach der Corona-Pause wird die Hilfe in Haiti dringend benötigt.
VON MICHÈLE-CATHRIN
ZEIDLER UND SIMONE THELEN
„Unsere Hilfe wird
mehr als dringend benötigt“, weiß Peter Körfer von der Missions- und Bastelgruppe Brachelen. Der von Armut, politischen Krisen, Gewalt und Naturkatastrophen heimgesuchte Karibikstaat Haiti kommt
seit Jahren nicht zur Ruhe. „Das schwere Erdbeben in 2010, die Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 sowie ein weiteres schweres Erdbeben im August 2021 mit 2200 Toten haben die
Probleme des Landes weiter verschärft.“, weiß Körfer, der sozusagen die Kontaktperson zwischen Hückelhoven und dem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre. Seit 1968 unterstützt die Missionsgruppe
Brachelen schon die Mont Des Olivier Schule in Haiti. „Dies war nur möglich durch die kontinuierliche Unterstützung der Brachelener Bevölkerung sowie der zahlreichen Besucher aus der
Umgebung.“
Nachdem in den letzten
beiden Jahren der Missionsbasar coronabedingt ausfallen musste, findet er nun an diesem Wochenende, 19. und 20. November, jeweils von 11 bis 18 Uhr, wieder statt. Aufgrund der Enge im Jugendheim
und damit verbundener erhöhter Ansteckungsgefahr hat die Missionsgruppe den Basar in den Pfarrgarten an der Kirchgrabenstraße verlegt. Neben den Räumlichkeiten der Tagespflege wird auch die
Kirche in die Ausstellung mit einbezogen.
272 Kinder und
Jugendliche besuchen die Mont Des Olivier Schule in Haiti. Mit den Spenden aus Brachelen werden unter anderem Lehrkräfte bezahlt und regelmäßige Mahlzeiten ermöglicht. Foto: Missionsgruppe Brachelen
„In der Missionsgruppe
haben mittlerweile vielfach die Kinder und Enkel der Gründungsmitglieder der Missionsgruppe deren Aufgaben übernommen“, freut sich Peter Körfer über das langjährige, gewachsene Engagement. Seien
in den Anfängen primär Handarbeiten aus Wolle wie Lepradecken, Socken und warme Bekleidung hergestellt worden, stünden heute Advents- und Weihnachtsdekoration sowie Geschenk- und Haushaltsartikel
im Vordergrund. Außerdem gebe es eine große Verlosung und Schminken für die Kinder.
Als die Unterstützung
der Mont Des Olivier Schule begann, wurden dort in einer Blechhütte 90 Kinder unterrichtet. Körfer: „Aktuell werden 272 Kinder in der von 2003 bis 2006 in Massivbauweise neu errichteten Schule
unterrichtet. Gerne würde die Missionsgruppe mehr Kinder aufnehmen, aber der jährlich verfügbare Etat erlaubt keine größere Schülerzahl.“ Bezahlt werden müssten die gut ausgebildeten Lehrer, die
warme Mahlzeit, Schulmaterial und die Unterhaltung des Gebäudes. Der Erfolg der Unterstützung spiegle sich auch in der für Haiti sehr hohen Abschlussrate der Schulbesucher. „In 2022 haben 88,15
Prozent der Kinder und Jugendlichen die Versetzung in die nächste Klasse erreicht.“ Für die Mitglieder der Missionsgruppe ist es wichtig, dass Jahr für Jahr eine stetige Hilfe geleistet wird.
Dies sei auch Antrieb, jedes Jahr einen Basar auf die Beine zu stellen – die Corona-Zeit einmal ausgenommen.
Im Karibikstaat Haiti
ist es in diesem Jahr in mehreren Städten zu massiven Protesten gekommen. In Gonaïves, rund 50 Kilometer von der Mont Des Olivier Schule entfernt, wurde im September ein Lager mit 1400 Tonnen
Lebensmitteln des Welternährungsprogramms geplündert und ein angrenzender Bürokomplex in Brand gesteckt, wie die UN-Organisation mitteilte. Die Lebensmittel sollten fast 100.000 Schulkinder bis
Jahresende ernähren und als Nothilfe für die am stärksten gefährdeten Familien dienen, hieß es in einer Mitteilung der Organisation.
Advents- und
Weihnachtsdekoration sowie Geschenk- und Haushaltsartikel bietet der Basar in Brachelen. Außerdem gibt es eine Verlosung und Kinderschminken. Foto: Missionsgruppe Brachelen
Der Schulleiter der
von den Brachelenern unterstützen Schule Delcius Cherissonne hat Peter Körfer berichtet, dass aufgrund der Gewalt und der Plünderungen im Land der Schulbetrieb seit September ruht. Ein Teil der
Kinder und Jugendliche kämen aber trotzdem jeden Tag zur Schule und nutzen die Laptops und Computer. „Bedingt durch die Unruhen ist augenblicklich auch der Versand von Waren nach Haiti
unterbrochen. Die Missionsgruppe möchte etwa einen Solarofen nach Haiti schicken. Darin soll als Pilotprojekt Brot gebacken werden, unabhängig von Strom, Gas oder Holz als Energieträger.“
Auch die
Lieferschwierigkeiten seien nun ein Grund, warum finanzielle Spenden für die Mont Des Olivier Schule so wichtig seien. Die Mitglieder der Gruppe sind zuversichtlich, dass der Basar wieder ein
voller Erfolg werden wird. Außerdem wird die Arbeit durch Spenden anlässlich von runden Geburtstagen, Beerdigungen sowie durch Übernahme von Patenschaften unterstützt. „Man weiß, dass das Geld
ohne Abzüge bei den Kindern ankommt“, sagt Peter Körfer. Spenden nimmt die Missionsgruppe über ihr Spendenkonto, IBAN: DE29 3125 1220 0006 6201 08, Kennwort: Missionsgruppe Brachelen, gerne
entgegen.